Arbeit kennt keinen Jahrgang – Visento
Arbeit kennt keinen Jahrgang
Politik/Gesellschaft

Arbeit kennt keinen Jahrgang

19.09.2025
von pero · 316 x gelesen

Wer durch Schweizer Städte flaniert, sieht sie überall: Pensionierte, die Taxi fahren, in Museen Führungen anbieten, im Verkauf aushelfen oder ihre Expertise als Berater einbringen. Manche tun es, weil ihre Rente nicht reicht, andere, weil sie schlicht nicht aufhören wollen. Die Pensionierung ist für viele nicht mehr der endgültige Bruch mit dem Arbeitsleben, sondern ein Übergang in eine neue Phase.

Tatsächlich ist die Erwerbsquote der über 65-Jährigen in der Schweiz eine der höchsten in Europa. Fast jede fünfte Person zwischen 65 und 74 Jahren ist noch erwerbstätig – doppelt so viele wie im EU-Durchschnitt. Männer sind dabei häufiger aktiv als Frauen, doch auch bei ihnen wächst der Anteil.

Das Geld spielt eine Rolle – aber nicht nur

Finanzielle Gründe sind ein wichtiger Treiber. Wer sein Leben lang Teilzeit gearbeitet hat oder aus gesundheitlichen Gründen keine volle Vorsorge aufbauen konnte, ist auf Zusatzeinkünfte angewiesen. Steigende Krankenkassenprämien, Mietkosten oder Ausgaben für Pflege können Rentenbudgets rasch übersteigen.

Doch Geld ist nicht die einzige Motivation. Viele Pensionierte betonen, dass ihnen Arbeit Struktur gibt. Sie wollen morgens aufstehen mit einem Ziel, soziale Kontakte pflegen, geistig gefordert sein. Arbeit wird so zum Anker im Alltag – und zur Quelle von Lebenssinn.

Zwischen Gesetz und Lebensrealität

Rechtlich ist das Arbeiten nach 65 vorgesehen. AHV-Beiträge werden weiterhin fällig, allerdings gibt es einen Freibetrag, unter dem keine Abgaben erhoben werden. Auch die berufliche Vorsorge lässt Spielräume: Viele Pensionskassen erlauben es, dass Angestellte länger versichert bleiben, sofern Arbeitgeber und Arbeitnehmer einverstanden sind. Wer die Rente aufschiebt, erhält sogar Zuschläge.

Doch die Praxis ist komplex. Arbeitgeber müssen sich überlegen, wie sie Pensionierte weiterbeschäftigen, und ältere Arbeitnehmende müssen sich in einem Dschungel aus Versicherungsfragen, Steuerregeln und Vertragsbedingungen zurechtfinden. Nicht selten braucht es Beratung, damit aus dem Wunsch nach Weiterarbeit keine bösen Überraschungen werden.

Ein gesellschaftlicher Wandel

Noch vor wenigen Jahrzehnten war es selbstverständlich, dass mit 65 das Berufsleben endet. Heute hat sich das Bild vom Alter gewandelt. Wer mit 65 fit und aktiv ist, sieht sich nicht als „alt“ – sondern mitten im Leben. Dazu passt, dass die Lebenserwartung gestiegen ist und viele Menschen noch zwei gesunde Jahrzehnte vor sich haben.

Für die Gesellschaft ist das Chance und Herausforderung zugleich. Einerseits bringt die Erfahrung älterer Menschen Stabilität in Betriebe, schafft Wissenstransfer und entlastet Branchen mit Fachkräftemangel. Andererseits stellt sich die Frage: Wie lange ist es realistisch, arbeiten zu können? Körperliche Einschränkungen, Krankheiten oder Pflegebedürftigkeit lassen sich nicht einfach ausblenden.

Modelle der Zukunft

Die Lösung könnte in flexibleren Arbeitsmodellen liegen. Teilzeit, projektbezogene Einsätze oder Tätigkeiten, die weniger physisch belastend sind, gewinnen an Bedeutung. Immer häufiger ist von „Brückenjobs“ die Rede – Tätigkeiten, die zwischen dem Vollzeitberuf und dem endgültigen Rückzug aus dem Arbeitsmarkt stehen.

Für manche bedeutet das, dass sie ihre angestammte Stelle weiterführen, einfach in reduziertem Pensum. Andere wechseln bewusst in ein neues Feld: Lehrerinnen, die Senioren-Kurse geben, Ingenieure, die als Mentoren auftreten, Handwerker, die ihr Können in Vereinen weitergeben. Arbeit nach der Pension ist nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor, sondern auch eine Frage der Identität.

Fazit: Arbeit als zweite Chance

Die Schweiz steht vor einer doppelten Herausforderung: Die Gesellschaft altert, und gleichzeitig fehlen in vielen Branchen Fachkräfte. Dass immer mehr Menschen nach der Pension weiterarbeiten, ist deshalb nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern auch eine gesellschaftliche Realität.

„Arbeit kennt keinen Jahrgang“ – dieser Satz ist Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels, in dem Alter neu definiert wird. Wer heute mit 65 die Rente erreicht, ist noch lange nicht am Ende seines beruflichen Weges. Für viele ist es der Beginn eines neuen Kapitels, in dem Arbeit weniger Zwang ist, sondern mehr Wahl, Gestaltung und Sinn.

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