Es werden immer weniger... – Visento
Es werden immer weniger...
Gedanken dazu ...
Wahlplakat Härdlütli 1971. Es werden immer weniger...

Es werden immer weniger...

11.10.2025
von Roland Peter · 132 x gelesen

Es werden immer weniger. Dieser einfache Satz ist wie ein Kieselstein im Schuh: unscheinbar, aber er zwingt mich, jeden Schritt bewusster zu setzen. Joy Matter habe ich nicht gekannt, nur ihren Namen, und die Lieder ihres Mannes, die uns damals begleitet haben wie helle Laternen im Abendwind. Und doch hat mich die Nachricht von ihrem Tod getroffen. Vielleicht, weil wieder jemand geht, der zu dem Teppich meiner Jugend gehört, zu jenem Muster, das ich einst für unzerreissbar hielt.

Ich sehe mich wieder Anfang der 70er-Jahre in Bern, ein Landei, etwas über zwanzig, staunend im Café des Pyrénées. Im «Pyri» war die Luft dicht von Rauch und Möglichkeiten. Polo Hofer lachte, Carlo Lischetti stritt, Margrit Probst und Per Häni von den Härdlütli sprachen nicht, sie philosophierten über das, was sein könnte. Ein junger Fotograf namens Giger hatte ein Wahlplakat gemacht, nackt und nackt auch die Absichten: sichtbar, verletzlich, unübersehbar. Die Bürgerlichen empörten sich, wir freuten uns über die Entrüstung – als sei sie der Beweis, dass die Welt beweglich ist. Manchmal sass auch Sergius Golowin dabei, und mit ihm schob sich eine Bibliothek an Geschichten an unseren Tisch. Ich hörte mehr, als ich sprach. Aber dieses Zuhören wurde mir zur Schule. In diesen Gesprächen, im Gedränge von Stimmen und Haltungen, wurde ich – wie soll ich sagen – sozialisiert. Es war, als hätte mir jemand eine zweite Sprache geschenkt: Die Sprache der Visionen.

Heute gehe ich seltener ins Zentrum meiner Erinnerungen, und wenn doch, stehen dort weniger Stühle. Gesichter fehlen. Man hebt die Hand zum Gruss – ins Leere. Wir verlieren nicht nur Menschen; wir verlieren auch Versionen von uns selbst, die nur in ihrer Nähe lebendig waren. Mit jedem Abschied wird eine Schicht der Welt dünner, durchsichtiger. Und gerade dadurch wird die andere Schicht – die Gegenwart – schärfer. Ich spüre die Ränder meiner Tage deutlicher, als hätten sie plötzlich eine klare Kante bekommen.

Es werden immer weniger: Das klingt nach Mangel, nach Verlust. Aber vielleicht ist es auch eine Einladung zur Konzentration. Was bleibt, wenn so vieles geht? Woran halte ich mich, ohne mich festzuklammern? Damals im «Pyri» glaubte ich, das Leben sei ein unendlicher Vorschuss. Heute weiss ich: Es ist eher ein immer bewussteres Raffen und Ordnen. Man lernt, das, was war, nicht zu konservieren, sondern zu destillieren. Aus Lärm wird Ton, aus Menge wird Melodie.

Der Tod von Menschen, die wir kaum kannten und doch kannten, erinnert uns daran, wie verwoben unsere Leben sind. Wir leben in Echos. Ein Lied, eine Zeile, ein Gelächter am Nebentisch – und wir sind wieder dort, jung, neugierig, verletzbar und unbesiegbar zugleich. Das Vergessen schützt, das Erinnern formt. Und irgendwo dazwischen liegt das, was man Reife nennt: die Fähigkeit, beides zuzulassen, ohne zynisch zu werden.

Ich frage mich, was die Jungen heute im Café ihrer Zeit lernen, wer dort empört, wer provoziert, wer leise eine Idee in den Raum legt, die erst Jahre später zu einem Lebensentscheid wird. Vielleicht braucht jede Generation ihr «Pyri»: einen Ort, an dem man mehr werden darf als die Summe der Herkunft. Und wir, die Älteren, tragen die Aufgabe, die Stille auszuhalten, die eintritt, wenn die Lauten von früher gegangen sind. Nicht um zu verstummen, sondern um weiterzugeben, was wir gehört haben.

Es werden immer weniger. Ja. Aber vielleicht heisst das auch: Es wird klarer, wofür ich noch hier bin. Um zu danken. Um zu erzählen. Um aufmerksam zu bleiben für die kleinen Umstürze im Alltäglichen. Um dem eigenen Ende nicht mit Angst, sondern mit Neugier zu begegnen – jener Neugier, die mir damals in Bern geschenkt wurde. Wenn die Namen nach und nach zu Strassen, die Gesichter zu Anekdoten werden, bleibt doch etwas, das sich nicht in Papier wickeln lässt: die Art, wie wir hinschauen.

Und so gehe ich weiter, einen Schritt nach dem anderen, mit einem Kieselstein im Schuh, der mich an jeden Schritt erinnert. Es werden immer weniger – und darum zählt jeder Gruss, jedes Lied, jede Tasse Kaffee. Mehr braucht es vielleicht nicht, um den Faden zu halten, bis auch wir loslassen.

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